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Geheimoperation F�rstenberg

Jahre vor der Kuba-Krise brachten die Sowjets heimlich Mittelstreckenraketen ins Ausland. Ohne Wissen ihrer NVA- Waffenbr�der stationierten sie Nuklearwaffen in der DDR.

I m Januar 1959 meldete V-Mann 9771 seinem in West-Berlin residierenden Kontaktmann vom Bundesnachrichtendienst (BND) erstaunliche Dinge. Auf der Bahnstrecke Lychen�F�rstenberg, 80 Kilometer n�rdlich von Berlin, sei ein Trupp der sowjetischen Armee eingetroffen und habe auf freier Strecke mit Hilfe von Raupenschleppern "sehr gro�e Bomben" ausgeladen. Das Gut sei dann "unter Umgehung von Chausseen" in ein Russen-Arsenal verfrachtet worden.

Der V-Mann hatte gut beobachtet: Die Sowjets waren gerade dabei, Atomraketen auf DDR-Territorium zu stationieren. In einer Kaserne im Gebiet des brandenburgischen F�rstenberg an der Havel, unweit des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbr�ck, wurden zwei mobile Abschussrampen f�r sechs Raketen des Typs R-5M � Nato-Code: SS-3 � stationiert, in einem weiteren russischen St�tzpunkt s�d�stlich davon, in Vogelsang, ebenso viele. Die beiden dazugeh�rigen Raketeneinheiten waren unter Tarnbezeichnungen eigens aus Russland in die DDR verlegt worden und z�hlten zur 72. Ingenieurbrigade � einem Eliteverband, der direkt dem Zentralkomitee der KPdSU unterstellt war.


Chruschtschows Traum, London und Paris mit atomaren Mittelstreckenraketen bedrohen zu k�nnen, nahm damit Gestalt an. Eine weitere Raketenbasis in Albanien komplettierte die sowjetische Strategie: Von der Hafenstadt Vlor� aus wurden Rom und das Nato-Hauptquartier S�deuropa in Neapel ins Visier genommen.

Die Aufstellung der SS-3 lief unter derart gro�er Geheimhaltung, dass nicht einmal die ostdeutschen Waffenbr�der unterrichtet wurden. Der einstige DDR-Verteidigungsminister Heinz Ke�ler, seinerzeit Chef der DDR-Luftstreitkr�fte, behauptet bis heute, er habe "�ber eine derartige Aktion keine Kenntnis gehabt". Auch sp�ter sei er vom Oberkommando des Warschauer Pakts nie in diese Nuklear-Mission eingeweiht worden.

40 Jahre lang blieben die Akten �ber die Operation unter Verschluss. Jetzt gaben Moskauer Milit�rs einem westlichen Historiker erstmals Einblick in den Ablauf der Staatsaktion. Matthias Uhl, 29, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl f�r Osteurop�ische Geschichte der Martin-Luther-Universit�t Halle/Wittenberg, durfte Zeitzeugen befragen und einschl�gige Dokumente sichten.

Mit der Geheimoperation F�rstenberg, erinnert sich der damals auf dem St�tzpunkt als Instandsetzungsoffizier eingesetzte sp�tere Generalmajor Wladimirski in einer von Uhl ausgewerteten internen Jubil�umsschrift der Brigade, begann "ein unruhiges Warten auf die Entwicklung der Ereignisse um West-Berlin" � Indiz daf�r, dass die Sowjets die Stationierung bei der sich anbahnenden Berlin-Krise zu nutzen gedachten.

Anders als in der Suezkrise drei Jahre zuvor, als Chruschtschow England und Frankreich �ffentlich mit Raketen unter Druck setzte, die noch gar nicht einsatzbereit waren, besa�en die Sowjets jetzt ein echtes Drohpotenzial. F�r die Russen, die sich vor einem nuklearen Erstschlag der USA f�rchteten, diente der atomare Vorposten zudem als weiterer Schritt zum Aufbau einer Balance des Schreckens.

Das freigegebene Material belegt, dass nicht die Karibikinsel Kuba 1962, wie bislang von den Milit�rhistorikern angenommen, sondern die DDR der erste Standort sowjetischer Mittelstreckenraketen im Ausland war.

Die konspirative Stationierung in der DDR verlief �hnlich wie die Kuba-Krise, als die Russen klammheimlich ihre Atomraketen auf der Zuckerrohrinsel in Stellung brachten und damit New York und Washington bedrohten. Doch w�hrend US-Pr�sident John F. Kennedy im Falle Kuba die Sowjets mit Androhung eines Weltkriegs zum Abzug bewegen konnte, taktierte sein Vorg�nger Dwight D. Eisenhower 1959 anscheinend subtiler � mit einer Mischung aus Geheimdiplomatie und Gegendruck.

Begonnen hatte der Politkrimi aus der Zeit des Kalten Kriegs Anfang der f�nfziger Jahre. Ab 1952 verlie�en Hitlers deutsche Raketenspezialisten, die von den Russen Richtung Osten verschleppt worden waren, die Sowjetunion. Ihre Hinterlassenschaft: eine funktionierende Serienproduktion der R-1, die ganz auf der einst vom deutschen Raketentechniker Wernher von Braun entwickelten V-2 basierte. Mit der R-1 begann das Moskauer Raketenprogramm.

Durch die R-5M, die Atomsprengk�pfe mit der Sprengkraft von 300 Kilotonnen TNT, dem gut 20fachen der Hiroschima-Bombe, 1200 Kilometer weit transportieren konnte, gelang den Russen der Einstieg in ein qualitativ neues System von Abschreckungswaffen. Die R-5M, im Nato-Code auch "Shyster" (Halunke) genannt, so der russische Raketenpionier Boris Tschertok, sei "der erste Atomwaffentr�ger in der Geschichte der Milit�rraketentechnik" �berhaupt gewesen. Ab 1956 wurden insgesamt 28 Exemplare bei den Streitkr�ften aufgestellt.

Schon am 26. M�rz 1955 indes beauftragte Parteichef Nikita Chruschtschow Verteidigungsminister Marschall Georgij Schukow, Raketen in der DDR, Bulgarien, dem Kaukasus und dem Fernen Osten zu stationieren. Bis zum 1. Juli 1956 seien die einzusetzenden Einheiten auf "volle Gefechtsst�rke" zu bringen. Zur Umsetzung dieser Ma�nahmen, hei�t es in dem Geheimerlass "Nr. 589-365 ss" weiter, sei der Personalbestand dieser Truppen um 5500 Mann aufzustocken.

Doch der Termin konnte nicht gehalten werden. Erst Anfang 1957 traf Generalmajor Puzik, Bevollm�chtigter f�r die Stationierung, in der DDR ein. Aus Geheimhaltungsgr�nden durfte Puzik im Land des Waffenbruders keine Aufzeichnungen �ber seine Inspektionsreise anfertigen. Auch die genauen Karten der vorgesehenen St�tzpunkte entstanden erst nach seiner R�ckkehr in der Operationsabteilung des sowjetischen Generalstabes.

Die f�r die Geheimoperation ausgew�hlte Truppe verf�gte bereits �ber Deutschland-Erfahrung. Die 72. Ingenieurbrigade wurde 1946 in Th�ringen formiert. Auf Weisung Stalins sollte sie in Berka bei Sondershausen den Abschuss der V-2 testen. Das Ziel: die praktische "horizontale Erprobung" von gut einem Dutzend aus Beutest�cken montierten V-2-Raketen.

Ab Dezember 1958 trafen Stab und zwei Raketenabteilungen der zwischenzeitlich in Astrachan stationierten Brigade in Ostdeutschland ein und begannen mit der Verladung der Projektile. Die von V-Mann 9771 zuf�llig beobachteten "sehr gro�en Bomben" waren zweifelsfrei Komponenten der mit Gefechtskopf 20,8 Meter langen R-5M-Raketen, die vormontiert zu ihren Standorten gebracht wurden. Die Atomsprengk�pfe kamen im April 1959 an. Unter starker Bewachung wurden sie �ber den Flughafen Templin eingeflogen und in den folgenden N�chten auf die Bunker in Vogelsang und F�rstenberg verteilt.

Am 29. April 1959 kam es beim Sprengkopftransport offenbar zu einem schweren Zwischenfall, der in den bisher zug�nglichen Akten nicht genauer bezeichnet ist. Der Verantwortliche f�r den Transport, Oberstleutnant Nesterow, wurde an Ort und Stelle abgel�st. Generalleutnant Michail Nikolski, wenig sp�ter Stabschef der Strategischen Raketentruppen, verf�gte dessen sofortige Degradierung.

Zudem gab es technische Probleme. Der fl�ssige Sauerstoff, wichtigste Treibstoffkomponente, verdampfte innerhalb von 30 Tagen. Riesige Nachschubmengen mussten produziert und bereitgehalten werden � wie Uhl vermutet, kam der Stoff aus den DDR-Chemiewerken in Leuna, weil der langwierige Transport aus der UdSSR zu hohen Verlusten in den Kesselwagen f�hrte.

Auch der Alkohol im Z�ndungssystem "verdunstete" gelegentlich, wie die Akten ausweisen: Einige Soldaten ersetzten das blau eingef�rbte, 92prozentige �thanol, bei der Truppe als Drink unter dem Namen "Blaue Donau" begehrt, durch gelb gekennzeichnetes Methanol. Es hagelte Disziplinarstrafen.

Wegen der regelm��igen amerikanischen Spionagefl�ge �bten die Sowjetsoldaten nur nachts an den Raketen. Die simulierten Startzeiten verk�rzten sich nach und nach von anfangs 30 auf 5 Stunden. Danach endlich, erinnert sich der sp�tere Generalmajor Dmitrijew, damals einer der Kommandeure vor Ort, "war die Einnahme der festgelegten Stufe der Gefechtsbereitschaft f�r den Kampfeinsatz m�glich" � unmilit�risch �bersetzt, die Brigade sei bereit gewesen, "Raketenstarts durchzuf�hren".

Auch die Herren im Kreml waren umgehend im Bilde. Im Mai 1959 meldete Marschall Matwej Sacharow, Chef der Gruppe der sowjetischen Streitkr�fte in Deutschland, Chruschtschow pers�nlich die Einsatzbereitschaft. Dem Oberbefehlshaber im Kreml war die Schie�order im Kriegsfall vorbehalten.

Vier Raketen waren auf England gerichtet. Durch vier atomare Schl�ge sollten im Ernstfall die ersten britischen "Thor"-Raketenstellungen in Norfolk und Lincolnshire ausgeschaltet werden. Au�erdem waren amerikanische Basen in Westeuropa bedroht, von denen im Falle eines Nuklearkriegs US-Atombomber aufsteigen sollten. Sowjetische Milit�rstrategen sahen noch eine dritte Option: Durch die Zerst�rung der Atlantikh�fen h�tten sie Westeuropa vom Partner USA abschneiden k�nnen.

Doch auch die Gegenseite schien inzwischen gewarnt � und das offensichtlich nicht nur durch aufmerksame BND-Sp�her allein. Auch die "entsprechenden Aufkl�rungseinrichtungen" der westlichen Siegerm�chte, notierte der sp�tere Generalmajor Wladimirski vom Stab der Brigade, h�tten sich "bei der Beschattung unserer Schritte" sachkundig machen k�nnen, weil es "einfach zu viele demaskierende Hinweise" gegeben habe.

Seit 1958 �bte das Strategische Bomberkommando der Amerikaner (SAC) eine neue Form der Alarmbereitschaft, bei der gefechtsbereite Bomber 24 Stunden lang in der Luft waren. "Wir m�ssen", so der Kommandeur des SAC, General Thomas Power, "Mister Chruschtschow damit beeindrucken." Anscheinend gelang das.

Fest steht, dass im August/September 1959 die 72. Ingenieurbrigade die Stellungen in der DDR �berraschend verlie�. Die Raketen wurden, ein knappes halbes Jahr nachdem sie gefechtsklar gemeldet worden waren, auf russisches Territorium ins Kaliningrader Gebiet abgezogen. Laut Raketen-General Puzik war der neue Standort in der Heimat "�konomischer und sicherer" � und wohl auch milit�risch sinnvoll. Denn inzwischen wurden bereits neue Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von �ber 2000 Kilometern aufgestellt, mit denen, so Puzik, "die gleichen Aufgaben vom Territorium unseres Staates aus erf�llt werden konnten".

Die wahren Gr�nde des pl�tzlichen R�ckzugs bleiben im Dunkeln, solange Amerikaner wie Russen die Details weiter geheim halten. Ein wichtiger Grund k�nnte, so Uhl, im Rahmen der Berlin-Krise zu finden sein. Die Sowjets wollten keine Eskalation bis hin zum Krieg, den die Nato notfalls zu f�hren bereit war.

So sahen die Planungen des Nato-Stabs "Live Oak", 1959 eigens eingerichtet, um die westalliierten Rechte in Berlin zu sichern, in einem Krisenszenario einen kontinuierlich st�rker dosierten Einsatz milit�rischer Gewalt vor � vom bewaffneten Durchbruch von US-Kampfverb�nden durch die DDR nach Berlin bis hin zu atomaren Gegenschl�gen. Da Chruschtschow jedoch "gerade auf Bluff und nicht auf Krieg setzte", glaubt Historiker Uhl, "war die weitere Stationierung der Raketen in der DDR sinnlos geworden".

Auch politisches Tauwetter kann eine Rolle gespielt haben. Im Fr�hjahr 1959 war die Genfer Au�enministerkonferenz erfolglos beendet und vertagt worden, bei der es neben Abr�stungsfragen auch um die sowjetischen Berlin-Ultimaten ging. Die USA gingen trotzdem auf die Sowjetunion zu. Am 12. Juli �bergab der stellvertretende Unterstaatssekret�r im Au�enministerium Robert Murphy den Russen eine Einladung von Pr�sident Eisenhower an Chruschtschow.

Tags darauf wurden die Verhandlungen in Genf wieder aufgenommen. Die deutsche Seite, die eine Aufweichung der Positionen der Westm�chte bef�rchtete, protestierte. "Ohne die geringste Konzession" der Sowjets, so der damalige Bundesau�enminister Heinrich von Brentano, werde �ber die K�pfe der Deutschen hinweg verhandelt. Eine Konzession freilich k�nnte es gegeben haben: den Raketenr�ckzug.

Als Chruschtschow am 15. September 1959 seinen Amerika-Besuch antrat, waren die Raketenstellungen im Raum F�rstenberg nicht nur bereits ger�umt. Der herzliche Empfang durch Eisenhower � er schenkte dem Gast unter anderem eines seiner Angus-Rinder � brachte auch greifbare Ergebnisse: Der sonst so polterige Russe zog seine Ultimaten zur�ck und machte sich f�r weitere Abr�stung stark.

Die Folgen des vor�bergehenden Sinneswandels, ehe sich mit Mauerbau und Kuba-Krise die Ost-West-Konfrontation erneut versch�rfte, registrierten auch die Kundschafter des BND. Am 10. September 1959 meldete V-Mann 9771 aus dem brandenburgischen F�rstenberg die Ankunft einer neuen "Einheit aus der SU" � wie die abgezogenen Raketenspezialisten auch "mit Artillerie-Abzeichen".

Doch einen Unterschied gab es. In den Monaten der Raketenstationierung sollten sich die Russen von Deutschen, die selbst zum Stromablesen nicht in die abgeschirmten Innenbereiche der Kasernen gelassen wurden, fern halten. Nun schien die Kontaktsperre wieder gelockert. Die Posten, so der m�rkische BND-Beobachter, wollten den deutschen Nachbarn "Uhren aus Moskau verkaufen".

� DER SPIEGEL Nr. 03/2000


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  • Frank meinte:
    "irgendwelches orthografischeS oder grammatikalischeS Rumgezerre" ......
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    Hallo interesiere mich auch f�r Grenze zur DDR, habe sie mit 15, also 74 illegal...
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    Lieber Herr Richter, sicherlich ist es ein Fehler, dass beim �bertragen des Artikels...
  • Sascha Fuhrmann meinte:
    Wow....... Na klar hat man damals in der DDR kaum etwas auszustehen gehabt, wenn...

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